Magdeburg - Erschöpft lässt sich Christian Kollenda in einen Liegestuhl fallen. Der 22-Jährige war die ganze Nacht wach. Jetzt ist Mittag, draußen scheint die Sonne, es sind 22 Grad an diesem Sonnabend im April. Und drinnen, in einer ehemaligen HNO-Praxis in einem Hinterhof am Magdeburger Ulrichplatz, wird 48 Stunden lang gezockt.
Der Verein Magdeburg eSports hat zur „Frühlings-Lan“ ins Vereinsheim geladen. Bei einer Lan treffen sich Menschen, um gemeinsam Computerspiele zu spielen. „Wir wollen die Leute zusammenbringen und das Miteinander pflegen“, sagt Christian. Der Magdeburger mit den blonden Locken ist einer der Köpfe hinter der Veranstaltung.
Die Computerplätze und Lounge-Ecken im Vereinsheim stehen an diesem Wochenende allen offen, die spielen möchten. Es gibt Turniere vom Minigame bis zum Ego-Shooter. Vieles wird live ins Internet übertragen und kommentiert – dafür gibt es ein Studio.
Vereinsheim von Magdeburg eSports in ehemaliger HNO-Praxis in Magdeburg
Einer der Räume liegt etwas abseits. „Audiometrie“ steht noch an der Tür, ein Hinweis auf die Praxisvergangenheit. In dem kleinen Zimmer sitzen fünf Spieler an Rechnern, jeder mit großen schwarzen Kopfhörern auf den Ohren. Sie bilden seit November ein Team, das heute erstmals an einem internationalen Turnier teilnimmt. Gespielt wird League of Legends (LoL), seit Jahren eines der beliebtesten Spiele. Zwei Teams kämpfen gegeneinander und versuchen, die gegnerische Basis zu zerstören.
„Es gibt viele Überschneidungen zum Fußball. Eigentlich geht es um Raumgewinnung“, sagt Steven, auch „Lachsmann“ genannt, wie sein Spitzname beim Computerspielen lautet. Steven nennt seinen Nachnamen nicht öffentlich. Er zeigt sich beim Spielen auch live im Internet. Wer hier zu freigiebig mit seinen persönlichen Daten ist, dem bestellen böswillige Zuschauer gerne Pizza nach Hause oder rufen die Polizei.
Während das LoL-Team den ersten Kampf gegen ein französisches Team ausfechtet, haben Christian und Steven Zeit, über ihre Leidenschaft E-Sport zu sprechen. Steven setzt sich aufs Sofa, neben Christian im Liegestuhl. An der Wand zeigt ein großer Bildschirm die Live-Übertragung des LoL-Turniers. Es läuft nicht gut für die Magdeburger.
Steven hat im Gegensatz zu Christian geschlafen. Der Magdeburger trägt Hemd und redet engagiert von seinen Plänen für den E-Sport in Magdeburg, von Sponsoring und eigenen, großen Turnieren. Steven ist erst seit Kurzem im Verein, aber seine Mission ist klar: Er will dem E-Sport in Magdeburg neues Leben einhauchen.
Den Magdeburger Verein gibt es seit 2016. Heute hat er über 120 Mitglieder. Der Verein will die Akzeptanz von E-Sport stärken und das gemeinsame Erlebnis fördern. Einmal die Woche kommt auch eine Sozialarbeiterin, die Jugendliche zum reflektierten Umgang mit Videospielen anregen soll. „Ich hätte mich gefreut, wenn es so etwas früher gegeben hätte“, sagt der 31-jährige Steven. Er habe sein ganzes Leben schon mit Vorurteilen zu kämpfen. Viele haben immer noch das Bild des Gamers im Kopf, der den ganzen Tag im Keller sitzt und sich schlecht ernährt.
Beim E-Sport ist das aber anders, meint Christian: „E-Sport ist immer wettbewerbsbezogen.“ Wer erfolgreich sein will, muss strategisch denken und Bewegungen immer und immer wiederholen. Koordination, Taktik, Geschwindigkeit, Kommunikation – all das brauchen gute E-Sportler.
Gemeinnützigkeit von E-Sport-Vereinen ist großer Streitpunkt
Für ein großes Problem halten die beiden die fehlende Gemeinnützigkeit für E-Sport-Vereine – seit Jahren ein Streitthema in Politik und Sport. Bisher können Vereine, die E-Sport anbieten, ihre Gemeinnützigkeit verlieren beziehungsweise bekommen diese erst gar nicht. Dadurch fallen viele finanzielle Vorteile weg. Die Bundesregierung will das ändern, aber hat zuletzt wieder auf 2024 vertröstet.
Eine Rolle spielt dabei auch, dass der Deutsche Olympische Sportbund (DOSCB) dagegen ist, E-Sport in seiner Gesamtheit als Teil des organisierten Sports anzuerkennen. Der DOSB kritisiert, dass im E-Sport „gewinnorientierte global agierende Unternehmen im Vordergrund“ stünden und oft die Vernichtung des Gegners das Ziel des Spiels sei. Simulationen analoger Sportarten, wie zum Beispiel Fußball, seien hingegen in Ordnung.
Der Landessportbund Sachsen-Anhalt schließt sich dieser Position an. Die Auseinandersetzung stelle „in der sportfachlichen Diskussion aktuell keinen Schwerpunkt“ dar, teilt ein Sprecher mit. „Interessante Anknüpfungspunkte“ sehe man für die Jugendarbeit, da Gaming eine wichtige Freizeitbeschäftigung der Zielgruppe sei. Einige traditionelle Vereine im Land haben eigene E-Sports-Abteilungen – meistens mit Simulationen wie digitalem Fußball.
Bei der „Frühlings-Lan“ in Magdeburg ist das erste Spiel im LoL-Turnier nach nicht einmal 20 Minuten aus. Magdeburg hat haushoch verloren.
Ein weiterer junger Mann – Frauen sind im E-Sport unterrepräsentiert – nimmt Platz in der Sitzecke. Simon „Naahti“ Reichel (der mittlere ist sein Gaming-Name) trägt ein schwarzes Sakko und hat einen Schreibblock in der Hand. Er ist der Trainer des Teams. „Die haben uns komplett über den Haufen gefahren“, sagt er. Aufgebracht ist der 22-Jährige nicht, eher ruhig und sachlich.
Sportlicher Ausgleich beim E-Sport wichtig
Simon stammt aus Magdeburg, arbeitet in Leipzig als Steinmetz und ist Stammtrainer in seiner Heimatstadt. Sogar eine Ausbildung beim eSport-Bund Deutschland hat er dafür gemacht. Sogleich beginnt er mit der Analyse: „Individuell haben die Gegner deutlich mehr Erfahrung. Wir haben auch Pech gehabt beim Losen.“ Zudem ist ein Stammspieler heute nicht dabei, weil er ein Fußballspiel hat.
Auch im zweiten Spiel wird Magdeburg besiegt. Allerdings konnte das Team seinem Trainer zufolge einige „gute Akzente“ zeigen. Als das dritte Spiel beginnt, gibt es schon keine Chance mehr, dass die Magdeburger im Turnier weiterkommen. „Unser Ziel ist es, Zähne zu zeigen“, gibt der Trainer vor.
Er beobachtet das Geschehen auf dem Bildschirm, um die Spieler nicht zu stören, und macht sich Notizen für die Nachbesprechung. Währenddessen isst er klein geschnittenes Gemüse aus einer Tupperdose. Seinem Team bringt er auch bei, dass ein Ausgleich zum stundenlangen Spielen wichtig ist. Sport, Spazieren oder Lesen beispielsweise.
Im letzten Spiel halten die Magdeburger lange durch. Letztlich verlieren sie trotzdem. Die Spieler verlassen, etwas geknickt, den Raum. Der 22-jährige Fabian „Fabsen“ Altmann begegnet der Niederlage mit Galgenhumor: „Wenigstens haben wir gezeigt, wie man würdevoll verliert.“
Mit der Leistung sind sie trotzdem zufrieden, immerhin war es das erste Turnier des Teams. „Wir wussten ja, worauf wir uns einlassen. Wir wollten uns mal zeigen“, kommentiert Spielerin Saskia „Sassypsilon“ Pitterling. Die 25-Jährige will mit dem Team hoch hinaus. Auch beruflich will sie sich ihrem Hobby widmen. Sie studiert E-Sports-Management. Mittlerweile hat die Gaming-Industrie mehr Umsatz als Film- und Musikindustrie zusammen. Die großen Turniere sind zu gigantischen Events geworden.
Auf der Frühlings-Lan ist es jetzt 15 Uhr. Das Turnier ist für die Magdeburger vorbei. Im Schnitt 30 Menschen haben über einen Livestream zugeschaut. Der läuft das ganze Wochenende parallel. Auch wenn gerade kein Turnier ist, setzt sich oft jemand ins Studio, fängt an zu spielen und erzählt darüber – das sogenannte „Casten“.
Caster Marius Lauer aus Sachsen-Anhalt beklagt Doppelmoral
Sachsen-Anhalts wohl erfolgreichster Caster ist Marius „Verdipwnz“ Lauer. Hunderte bis Tausende schauen dem 38-jährigen Magdeburger mit dem dunklen, langen Bart beim Spielen zu. Außerdem kommentiert er Events in ganz Deutschland. Und er kann sich über E-Sport in Sachsen-Anhalt in Rage reden.
„Die Leute in der Politik nutzen E-Sport immer nur, um ein schönes Bild von sich zu machen. Aber sie tun nichts dafür!“, beklagt Lauer. Einmal habe er ein Turnier des Spiels „Rainbow Six: Siege“ nach Magdeburg holen wollen. Das sei dann von der Stadt als „Ballerspiel“ verteufelt worden. „Aber Zehntausende Euro für Werbung bei einem Boxkampf habt ihr!“, sagt Lauer und schüttelt den Kopf. „Doppelmoral“ sei das.
Was Sachsen-Anhalt beim E-Sport Lauer zufolge braucht, ist Konstanz: „Man könnte alles mit E-Sport aufpeppen und große Events ranholen. Aber dafür braucht man einen konstanten Fokus.“
Im Video: Hallenser Florian Diebner (SC Panthera ESports Halle) im Interview
Die E-Sportler vom SC Panthera sind im Land Sachen-Anhalt konkurrenzlos und nehmen ausschließlich an nationalen und internationalen ESports-Turnieren teil. (Video: Torsten Grundmann)
E-Sport ist Generationenfrage in der Landespolitik von Sachsen-Anhalt
Tobias Krull, CDU-Landtagsabgeordneter, findet: „Da müssen wir mehr machen.“ Für ihn gehöre E-Sport zur modernen Sportwelt dazu. Krull sieht hier auch einen Generationenkonflikt: „Ich bin die erste Politikergeneration, die auch mit Videospielen groß geworden ist.“ Das Verständnis sei noch nicht bei allen da.
Diese grundlegende Skepsis bei Politikerkollegen sieht auch Sebastian Striegel von den Grünen. Seine Partei habe das Thema in der letzten Legislaturperiode auf die Tagesordnung gesetzt, sagt der Landtagsabgeordnete. „Wir haben Akteure im Land, die es zu unterstützen gilt.“ Man müsse vernetzen, fördern und große Events ins Land holen.
Die vorige Landesregierung aus CDU, SPD und Grünen hat einen sogenannten „E-Sport Hub Sachsen-Anhalt“ gefördert, der die Aktivitäten im Land bündeln soll und auch Unternehmen berät „E-Sport kann eine Brücke zur Zielgruppe sein. Eine Möglichkeit, um junge Menschen mit einer gewissen IT-Affinität anzusprechen“, sagt Sandra Kilian, die beim Hub arbeitet – seit Ende der Förderung ehrenamtlich.
Beim HIT-Campus ist man von den Chancen des E-Sports überzeugt. „E-Sport ist ein Eisbrecher“, sagt Geschäftsführer Mathias Schulz. Das Start-Up-Zentrum in der Magdeburger Ölweide will E-Sport-Veranstaltungen zur Personalsuche anbieten. Zudem findet Schulz, dass Firmen sich mit Gaming als attraktiver Arbeitgeber darstellen könnten. Hier schlummere noch viel Potenzial. Auch wirtschaftlich bieten E-Sport und Gaming in vielerlei Hinsicht Chancen.